Wer misst misst Mist — Corona

Thomas Strub
5 min readMar 27, 2020

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Derzeit wird in der Öffentlichkeit wie der Hase vor der Schlange auf die täglich veröffentlichten Zahlen des Robert Koch-Instituts oder alternativ Johns-Hopkins Universität geschaut.

Diese Zahlen dürfen aufgrund der Datengewinnung keine alleinige Basis für Entscheidungen sein. Meiner Meinung nach messen diese Zahlen eher den exponentiellen Wachstum der Testkapazitäten für SARS-CoV-2 als den tatsächlichen Verlauf der Ausbreitung.

Zur Verdeutlichung ein Schaubild das vereinfacht den Ablauf nach der Ansteckung bis zur Meldung der Infektion beim Robert Koch-Institut vereinfacht illustriert:

Die roten Kreise sind viel größer als die grünen Kreise. Wenn alle Übergangswahrscheinlichkeiten auf Dauer identisch bleiben, dann könnte man aus den Zahlen des RKI tatsächlich, mit n-Tagen Verspätung erkennen wie verwendete Maßnahmen wirken.

Aber die Übergangswahrscheinlichkeiten ändern sich mit der Zeit.

a) Symptomentwicklung

Derzeit werden Personen ohne Symptome fast nie getestet. Dies führt dazu, dass solange dies so durchgeführt wird eine entsprechende Dunkelziffer nicht zu vermeiden ist.

Viele bewerten die gleichen Symptome unterschiedlich. Dies könnte dazu führen, dass eigentlich symptomatische Personen nicht getestet werden. Bei einer Veränderung der Systematik oder nach einem Aufruf doch sich testen zu lassen könnte es vorkommen, dass diese Personengruppe doch getestet wird.

f) Krankenhauseinlieferungen

In einer Situation von überfüllten Krankenhäusern oder aus anderen Gründen wäre es möglich, dass weniger oder mehr Personen über den Weg Krankenhaus -> Test in der Statistik auftauchen. In der derzeitigen Situation dürfte dies aber kein Faktor für große Änderungen der Testwahrscheinlichkeit führen.

b) Arztbesuche

Hierfür gilt das gleiche wie für die Symptomatik und die Krankenhauseinlieferungen, eine gewisse Veränderung aufgrund von verändertem Verhalten ist hier nicht auszuschließen.

c) Nach welchen Kriterien wird eine Person mit Symptomen getestet.

Ursprünglich war die Anweisung, dass nur Personen getestet werden, die entweder in einem Risikogebiet waren, oder Kontakt mit einer Person die positiv auf Corona getestet wurden hatten.

Diese Regelung wurde in der Woche vom 25. März aufgehoben. Jetzt reicht es aus wenn man von einem Arzt zum Test geschickt wurde. In der Presse waren einige Artikel zu lesen, dass Personen auf einen Test warten.

Update

Beispielsweise geht jetzt der Anteil an Infizierten bei älteren Personen unter den Infizierten nach oben. Relativer Anteil im Vergleich zur Altersgruppe 35–59m 100% relativer Anteil 80+w 42% Der relative Anteil 80+w war letzte Woche noch geringer.

Quelle RKI

Prinzipiell schlecht, da ältere Personen ein deutlich erhöhtes Risiko haben.

Folgende 3 Erklärungen habe ich dafür:
1. Es waren bisher auch mehr ältere unter den Infizierten, sie wurden aber nicht getestet, da sie nicht den Kriterien entsprachen (waren in Risikogebiet oder Kontakt wurde pos getestet)
2. Die Zahl bildet korrekt die Quote wieder, aber durch jetzt gleichmäßigere Verbreitung steigt der Anteil der älteren. In der ersten Runde Skifahrer, zweite Runde Arbeitskollegen + Kinder, dritte Runde …, vierte Runde gleichmäßig Verteilung.
3. Der Anteil der Älteren war niedrig und geht durch die Schutzmaßnahmen zurück, aber durch die erhöhte Anzahl von Tests von Personen aus der Risikogruppe werden diese Überdurchschnittlich häufig getestet und tauchen auch damit auch vermehrt in den Daten auf.

Welche dieser Erklärungen passt kann man nur Aufgrund der Daten nicht sagen.

d) Ist Testkapazität vorhanden

Folgende Maßnahmen werden derzeit unternommen um die Testkapazität zu erhöhen:

  • Es werden mehr Testkits produziert
  • Es werden neue Abnahmezentren eröffnet
  • Es wird Laborkapazität vorrangig für diese Tests verwendet

Alle drei Maßnahmen erhöhen exponentiell die Anzahl der testbaren Personen. So lange eine Testunterdeckung vorhanden war und die Personen verspätet getestet werden könnte es sein, dass die Entwicklung der positiven Tests deutlich von der Realität abweichen.

Diese Grafik ist eine extreme Vereinfachung der Situation. Folgende Annahmen werden getroffen. Es sind von Beginn bis Ende 1 Mio Infizierte, der Test ist 100% korrekt, die Testkapazität fängt an Tag 1 bei 100 an und wächst täglich um 40%.

Man erkennt, dass die Anzahl der gemessenen Neufälle bis Tag 24 exponentiell wächst, am 25 Tag leicht sinkt und an Tag 26 bei 0 ist. Im Modell gab es seit Tag 1 keinen einzigen neuen Fall.

Update

Das Modell soll nicht aussagen, dass es keine exponentielle Entwicklung der Ausbreitung gab. Folgendes Modell mit Wachstum in der Zahl der Infizierten bis zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich eingefügt:

Start der Tests mit 100 Tests pro Tag bei 5700 Infizierten Personen. Das Wachstum von beidem ist 40% am Tag. Ab Tag 17 wird die Ausbreitung der Infektion bei einem Stand von 1 Mio infizierten Personen gestoppt. Dieser Stop wird in den Zahlen erst 8 Tage später erkannt. Dies zeigt, dass alleine ein Wachstum der Fallzahlen nichts über die Neuverbreitung aussagt.

e) Testqualität

Für jeden Test ist die Sensitivität (Kranker wird erkannt) und die Spezifität (Gesunder wird nicht inkorrekt als krank erkannt) relevant. Durch Änderung des Testverfahrens (Abstrich vs. Bluttest) und ähnliches ändern sich beide Parameter.

Update

Ein detailierter Artikel zu den verschiedenen Testverfahren und deren Schwächen und Stärken wurde auf heise.de von Andreas Stiller veröffentlicht.

Auch der Fall der 16-jährigen Julie in Frankreich zeigt, dass es gefährlich sein kann nur auf die Testergebnisse zu vertrauen.

Sind die Zahlen wirklich falsch?

Rückwärtsrechnung

Im unten stehenden Schaubild sind lose Zeitpunkt von verschiedenen Aktionen und Terminen aufgezeigt.

Die Schätzung Ansteckung -> 19 Tage später Eintritt des Todes habe ich aus folgendem Schaubild auf Seite 4 einer Publikation des Robert Koch-Instituts

Eine Rückwärtsrechnung der kumulierten Anzahl an Toten am 24. März bei einer angenommen Todeswahrscheinlichkeit von 0,56% ergibt 19 Tage davor, also am 5. März, etwa 22.800 infizierte Personen. Die gemeldete Zahl an infizierten Personen war zu diesem Tag 400. Dies ergibt einen Faktor von 57. Mehr als nur eine kleine Abweichung. Auch wenn man die Symptomatik mit reinrechnet und die Zahl vom 10. März (1296) nimmt sind es immer noch 10 mal mehr Personen als gemessen.

Vorschlag zur Verbesserung

Zufallsstichprobe

Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hat in einer Stellungnahme am 20. März folgenden Vorschlag gemacht:

Unter anderem ist es sinnvoll, Zufallsstichproben der Gesamtbevölkerung auf SARS-CoV-2 zu untersuchen, um die wahre Durchseuchungsrate zu erfassen.

Dies sollte man in einem extrem betroffenen Gebiet im Ausland und im Vergleich dazu 2 mal im Abstand von 4–7 Tagen in Deutschland machen.

Dabei sollte für alle 3 Gruppen ein identischer Test, idealerweise wahrscheinlich ein Bluttest verwendet werden.

Update

In Island wurde bis zum 25. März eine Zufallsstichprobe über 6163 zufällig ausgewählte Bürger durchgeführt. Quelle orf.at. Selbst in dem kleinen Land wurden durch die Dunkelziffer auf dem normalen Weg 3/4 der Fälle nicht erkannt.

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Thomas Strub
Thomas Strub

Written by Thomas Strub

Diplom Informationswirt. Arbeite als Softwareentwickler. Schlage zu oft die Hände über dem Kopf zusammen wenn ich S-Architektur sehe — Lebe im schönen Breisgau.

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