Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen — Corona

Thomas Strub
7 min readMar 31, 2020

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Rechnen mit Lebenszeit statt Geld

In den Medien wird oft über den finanziellen Schaden der Corona-Krise geschrieben. Dieser Schaden ist zwar für einige tragisch, aber gibt es nicht bessere Metriken um den Schaden und Nutzen zu bewerten?

Unten stehend beschreibe ich eine Methode mit der das Risiko der Summe an verlorener Lebenszeit je nach eintreffendem Szenario kalkuliert wird. Dieses Stelle ich dem Verlust durch die Einschränkungen gegenüber.

verlorene Lebenszeit je nach Szenario

Ausgangslage

Verschiedene Länder haben verschiedene Maßnahmen getroffen, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu stoppen oder zu verlangsamen. The Hammer and Dance beschreibt sehr gut welche Maßnahmen in unterschiedlichen Ländern getroffen wurden.

Auswirkung

Die Auswirkung der Maßnahmen ist, dass wir im kleinen oder großen unsere Tage und Wochen nicht mehr so planen können wie wir es gerne würden. Für manche ist das weniger tragisch, für andere lösen sich Träume auf die jahrelang hingearbeitet wurde in Luft auf.

Lebenszeitspende

Für mich gilt jeder Tag, an dem substanzielle Einschränkungen bestehen als “gespendeter” Tag. Das bedeutet, dass jeder Tag an dem substanziell in die Lebensplanung bzw. in den üblichen Tagesablauf eingegriffen wird mit -1 in die Rechnung geht.

Das Ziel

Mit diesen Einschränkungen soll das Leid von vielen reduziert werden. Doch die Frage die sich mir stellt, ist dies verhältnismäßig? Sind die Spenden kleiner oder größer als das was gewonnen wird?

Es ist für mich auch akzeptabel, dass in der Ungewissheit über das Ziel hinausgeschossen wurde. In der Bundestagsdrucksache 17/12051 vom 3.1.2013 wurde als schlimmstes Szenario mit einer Todesquote von 10% gerechnet. Um genauer abschätzen zu können, ob dies realistisch ist, kann durchaus für eine gewisse Zeit eine Einschränkung eingeführt werden. 2–4 Wochen mit Sicht auf ein Ende muss für jeden akzeptabel sein, es kann einem jedes Jahr passieren, dass man ohne eigenes verschulden die Pläne für die nächste Zeit ändern muss.

Was gewinnen wir

Die durchgeführten Maßnahmen können unter anderem zu folgenden 3 Ergebnissen führen

1) Eindämmung oder Impfstoff ist vorrätig

In diesem Szenario wird nach einer gewissen Zeit keine gefährliche Neuinfektion mehr in dem betrachteten Gebiet stattfinden und es wird dadurch zu keiner Belastung der betroffen Personen führen, weder durch Krankenhausaufenthalte oder durch ein Restrisiko zu sterben.

2) Verzögerung der Ausbreitung

Um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten gibt es ja den Begriff flatten the curve. Folgendes Schaubild zeigt am besten was passiert:

Alexander Radtke

Die Verteilung der angesteckten Personen wird so gestreckt, dass für jeden jederzeit eine optimale Versorgung in den Krankenhäusern verfügbar ist, die Fläche unter der Kurve wird aber nicht deutlich kleiner. Durch erhöhte Kapazität können aber mehr Fälle behandelt werden.

3) Exponentielle Ausbreitung

Basisszenario ist die anfänglich (un-)gebremste exponentielle Ausbreitung bei der die Krankenhäuser nicht mehr in der Lage sind für jeden das Bestmögliche zu tun. Die Folgen dieses Szenarios kann man in Teilen von Norditalien, Madrid, Grand-Est und New-York beobachten.

Modell

Verlorene Lebenszeit durch Tod

Bei dem Ansatz mit Lebenszeit zu rechnen bedeutet der Tod, dass der Gestorbene ohne eine Ansteckung noch eine längere Zeit weiter gelebt hätte. Dies ist die erwartete Restlebenszeit. Für jeden Einzelnen mag diese aufgrund vom persönlichem Gesundheitszustand unterschiedlich sein, aber über die Gesamtmenge an Personen kann man die statistische Lebenserwartung als Rechengrundlage nutzen. Für mich als Bewohner von Baden-Württemberg gilt folgende Sterbetafel:

Auszug Sterbetafel

Das bedeutet falls ein Mann mit 43 Jahren stirbt gehen statistisch 37,75 Jahre erwartete Restlebenszeit verloren. Eine 70-jährige Frau hat statistisch noch 17,3 Jahre zu erwarten.

Basisbevölkerung

Als Rechengrundlage nutze ich die Gesamtbevölkerung in Deutschland

Quelle Statistisches Bundesamt

Todesfälle

Um die Anzahl der Todesfälle durch SARS-CoV-2 zu schätzen gibt es derzeit noch extreme Unsicherheiten. Ich rechne unter anderem mit den Zahlen des Imperial College COVID-19 Response Team. Sie wurden am 16.03.2020 veröffentlicht und waren Grundlage dafür, die Strategie im Vereinigten Königreich anzupassen.

Imperial College Seite 5

Die Daten in der Tabelle führen zu abweichenden Ergebnissen in der Gesamtzahl an Todesfällen.

IFR — für 100%
Todesfälle aus Übergangswahrscheinlichkeiten

Das ist aber für die Gesamtbetrachtung weniger tragisch, ergibt nur mehr mögliche Szenarien, die betrachtet werden.

Geschlecht und Alter

In der Anzahl der Todesfälle in Italien fällt auf, dass es eine extreme Spreizung zwischen männlichen und weiblichen Todesfällen gibt.

epicentro.iss.it

Inwiefern hier schon Auswirkungen der Triage zu sehen sind, kann ich nicht beurteilen. Aber falls sie in der Altersgruppe gleichmäßig verwendet wurde bleibt die Grundaussage stabil.

Auch in der Anzahl der Infizierten in Deutschland wie auch in der Anzahl an gestorbenen Personen ist ein deutlicher Unterschied in der Geschlechterverteilung zu erkennen.

Extrem deutlich ist die Spreizung im Alter der Fälle. Hier ein Vergleich mit der Anzahl an Personen in der jeweiligen Gruppe:

Infizierte Deutschland Quelle RKI über NPGEO

Das bedeutet folgende Gruppen sind unterdurchschnittlich oft in der Anzahl an Infizierten Personen enthalten:

  • Frauen
  • Junge Personen (extrem)
  • Alte Personen

Eine Begründung für den extrem niedrigen Anteil an Personen < 14 kann ich nicht liefern. Meine Vermutung: Es hängt mit Messungenauigkeiten zusammen.

Wenn man die Fälle in jeder Alterskohorte so lange erhöht bis die erste bei 100% für Deutschland erreicht ist die Durchseuchung bei 69%. Aber gerade die Risikogruppe ältere Männer ist damit nicht deutlich unterrepräsentiert, wie sie aus Schutzgesichtspunkten sein sollte. Unten verwende ich einen Korrekturfaktor, der die in Island vermuteten 50% asymptomatische Fälle hauptsächlich auf die Gruppen < 59 verteilt.

Kalkulationen

Annahme: Die exponentielle Ausbreitung führt zu einer Überlastung des Gesundheitswesens und damit steigt die Fallsterblichkeit entweder auf den Wert ohne Platz auf der Intensivstation oder im schlimmsten Fall auf den Wert, dass alle Personen, die in ein Krankenhaus müssten es nicht überleben. Ich denke die Verwendung des IFR aus der oben genannten Studie kann als Szenario für diesen Fall zugrunde gelegt werden.

Kalkulation mit Infection Fatality Ratio

Für diese Berechnung ist die Infection Fatality Ratio also sicher ein guter Schätzer. Leider fehlt eine Unterscheidung nach Geschlecht.

IFR — Todesfälle gesamt
IFR — Aufgeteilt in männlich/weiblich

In diesem Szenario würden zusätzlich mehr an SARS-CoV-2 sterben, wie es in einem normalen Jahr Todesfälle gibt.

Kalkulation mit Übergangswahrscheinlichkeiten

Die große Unsicherheit in der Bewertung derzeit ist wie hoch sind die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den Stati.

Gesund -> Infiziert:

Hier sind Schätzungen von 60–70% bis 100% valide. Bei einer Quote unter 100% gibt es unter anderem folgende Möglichkeiten

  • Gleichmäßige Verteilung über die Altersgruppen
  • Risikogruppen werden umgekehrt proportional ihres Risikos infiziert

Infiziert -> Symptome:

Eine Studie aus Island die eine Stichprobe von 6163 Personen getestet hatte kam auf eine Rate von 50%. Wie oben beschrieben nutze ich diese Rate um in den Altersgruppen < 59 die Infiziertenquote auf ein plausibleres Maß zu erhöhen. Die veröffentlichen Zahlen der Infizierten sind sicher kein genaues Abbild der Realität.

Eigene Hochrechnung

Diese eigene Hochrechnung wird wahrscheinlich auch nicht korrekt die Wahrheit wiedergeben, sie wird hier aber exemplarisch im Modell verwendet. Eine Änderung der Grundaussage durch genauere Faktoren erwarte ich nicht.

Symptome -> Krankenhaus:

Die aktuellsten Zahlen sind aus der Studie vom Imperial College

Krankenhaus -> Kritischer Zustand:

Die aktuellsten Zahlen sind aus der Studie vom Imperial College

Eigene Hochrechnung

Kritischer Zustand -> Todesfall:

Diese Zahl ist auch schwer zu ermitteln.

Hier gibt es zwei Szenarien:

  • Alle in kritischem Zustand sterben, da keine Kapazität in den Krankenhäusern vorhanden ist
  • Eine dem Alter/Geschlecht angepasste Rate, die plausibel aber nicht genau aus den vorhandenen Daten geschätzt ist. Plausibel wäre, dass Beispielsweise 70% der Männer die in den kritischen Zustand fallen sterben und entsprechend den Faktoren aus Italien weniger Frauen
Plausible Zahlen

Verlorene Lebenszeit

Jeder Todesfall erzeugt Leid, aber es nimmt auch der Person die Wahrscheinlichkeit noch eine längere Zeit zu leben. Diese verlorene Lebenszeit durch den vorzeitigen Tod werde ich jetzt in der Folge darstellen:

Szenario 1:

Verlorene Lebensjahre — extremes Szenario

Die genannten 72 Tage ist der Wert den jeder im Schnitt durch den Ausbruch in diesem Szenario verliert. Eine Schutzmaßnahme, die 2 1/2 Monate geht erzeugt im Mittel keinen Gewinn/Verlust an Lebenszeit.

Zum Vergleich die Szenarien 2) und 3)

Geschätzte Werte von oben

Hier werden deutlich niedrigere Werte erreicht, das Robert Koch-Institut hat in einer Studie vom 20.03.2020 mit einer Letalität von 0,56% gerechnet. Diese wäre zwischen meinen beiden Szenarien.

Szenario 4) würde bedeuten keine Todesfälle.

Diese drei Szenarien zeigen wie viele Lebensjahre jeweils verloren gehen.

verlorene Lebenszeit

Ergebnis

Mit dem Modell lassen sich die erwarteten Gewinne zwischen den verschiedenen Verfahren berechnen und man kann die Summe der eingeschränkten Tage dagegen aufrechnen.

Die Ungewissheit am Anfang aber auch die fehlende Behandlungskapazität für die unkritischen Fälle zeigen, dass es nicht falsch war wenige Wochen zu investieren um aus einem der Szenarien 1/2 in ein Szenario 3/4 zu kommen.

Mit der Zeit wird man die Lage aber genauer beurteilen können. Da reden wir nicht mehr darum das worst-case Szenario zu verhindern, sondern aus den Zwischenwegen den sinnvollsten zu wählen. Dies sollte genau beobachtet werden.

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Thomas Strub
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Written by Thomas Strub

Diplom Informationswirt. Arbeite als Softwareentwickler. Schlage zu oft die Hände über dem Kopf zusammen wenn ich S-Architektur sehe — Lebe im schönen Breisgau.

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